Bipolare Störung

Manisch-depressiv oder bipolar?

Ich möchte bewusst von dem vielfach verwendeten Ausdruck „himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“ in Zusammenhang mit dieser so häufigen Krankheit wegkommen: Der Alltag dieser Menschen (und auch der Angehörigen) ist nur selten so. Die auffälligste Form der „manisch-depressiven Störung“, ist die, die wir als „Bipolar I“ bezeichnen, mit sehr ausgeprägten Symptomen in der Manie und starkem Rückzug, bzw. schwerster Depression.
In meiner Wahrnehmung sind allerdings die Formen mit leichteren, weniger auffälligen Symptomen häufiger. Die Betroffenen leiden mitunter noch mehr, da besonders in den depressiven Episoden viele ihrer Lebensziele nicht erreicht werden können und die Zeiten von „Normalität“ oder „Hypomanie“ in denen sie ihre Lebensziele fassen, in Wirklichkeit trügerisch und kurz sind.

Eine junge bipolare Patientin, die wir über viele Jahre behandelten, schilderte mir: „In der Depression komme ich mir vor wie im Wartesaal eines Bahnhofes. Alle anderen wissen, wo sie hinfahren und wann sie ihren Zug erreichen müssen und ich schaue nur zu, ich habe keinen Zug, kein Ziel, niemanden, der auf mich wartet und keine Kraft mir ein Ziel zu suchen … In der Manie habe ich das Gefühl alles kann nicht schnell genug gehen, auch ich bin für meine Umgebung zu schnell.“

Die Phasen können mehrere Tage bis Wochen, meist Monate dauern. Auf eine Zeit der Manie (manchmal nur wenige Tage) folgt die Zeit der Depression (überwiegend mehrere Wochen) und umgekehrt. Es gibt viele, verschiedene Formen dieser Erkrankung. Sie unterscheiden sich in Ausprägungsgrad und Schwere der einzelnen Phasen, im Rhythmus (bzw. der Dauer der Phasen) und in den Begleitsymptomen. Dabei ist das „Nebeneinander“ oder die extrem rasche zeitliche Abfolge (in wenigen Stunden) von manischen und depressiven Symptomen eher sehr selten.

Uns allen geht es manche Tage besser und manche Tage schlechter. Kaum einer, der von sich ehrlich und selbstkritisch sagen kann: Es geht immer gleich. Wir haben aber oft Strategien, unsere Tiefs zu meistern und uns in bessere Stimmung zu bringen.
Bei Manisch Depressiven sind die Zustände von großer Heftigkeit. Sie fühlen sich einer stärkeren Kraft ausgeliefert. Wenn sie manisch sind, geht es so gut, dass sie nicht wissen, wohin mit ihren Energien. Sie können nicht schlafen, können viel tun, sind kreativ und haben zu allen eine Meinung: vor allem zu allen Mitmenschen. Sie spüren Gefühle intensiv: Glück, Liebe, Lust und Trauer, aber auch Zorn und Ärger. Solche Menschen reden schnell, singen, reimen, tanzen, machen Scherze und lachen viel – wen stört es dann schon, dass nicht jeder Witz passt? Wen stört es, dass sie die ganze Welt umarmen können, alle lieben und sich jeden Tag ein neues Auto kaufen wollen? Genau das ist das Problem: Maniker brennen lichterloh und genau wie ihr Bankkonto, so sind auch ihre Energien sehr bald erschöpft und der Absturz folgt unweigerlich und er ist sehr tief.

Die Depression beim Bipolaren ist meist heftiger, als bei Menschen mit chronischen Depressionen und sie dauert länger als eine sogenannte depressive Episode. In dieser Zeit kann es vorkommen, dass die/der Betroffene nicht arbeiten kann, das Haus, vielleicht nicht einmal das Bett verlassen kann. Es geht nur schlecht, alles – auch die kleinste Aufgabe – bedeutet eine schwere, unüberwindbare Anstrengung. Man ist nicht in der Lage einkaufen zu gehen, zu kochen oder auch nur die Post zu öffnen. Gefühle gibt es nur negative, oder vielmehr das Gefühl, niemals Gefühle gehabt zu haben und auch keine Hoffnung, dass sich irgendwas ändern wird. Es ist wie am Boden einer völlig schwarzen Höhle zu sitzen, keine Chance herauszukommen. Meterhohe und -dicke Wände zwischen mir und dem nächsten Menschen.

Nicht alle Menschen mit bipolaren Störungen haben Symptome in der vollen Ausprägung und Heftigkeit, aber selten ist das nicht.

Vorstufen und abgeschwächte Formen

Sicherlich ist es notwendig, dass wir mit unserer Befindlichkeit und unserer Stimmung auf die Ereignisse der Umwelt reagieren. Aber wir lernen bereits im Kindesalter, wie wichtig es ist, unsere Gefühle im Zaum zu halten. Jähzorn und Aggression, aber auch Liebesbezeugungen müssen gezügelt werden, sonst ist ein soziales Zusammenleben nicht möglich. Über die Pubertät hinweg passen wir uns zunehmend an die Regeln unsrer Gesellschaft an. Manche schaffen es mehr, manche weniger. Aber „Reaktion“ und phasenweise Stimmungsschwankungen sind grundsätzlich voneinander verschieden, auch wenn die Betroffenen und ihre Angehörigen immer nach Erklärungen suchen. Biologisch unterliegen Menschen mit phasenweisen Beeinträchtigungen (zyklothyme Menschen) einem gewissen Rhythmus. Der ist so natürlich wie der Biorhythmus oder Monatszyklus der Frau, und er kann auch so natürlich erforscht werden und man kann sich daran anpassen.

Aber die meisten von uns kennen Momente oder Phasen, in denen es manchen von uns schwerfällt, ihre Emotionen in Schach zu halten und „angepasst“ zu reagieren. Dies kann neben Streit und verbalen „Ausrutschern“ mitunter sogar zu Affekthandlungen führen. Manchmal ist ein solcher Moment der Beginn einer längeren Phase von Verstimmung. Was liegt dann näher, als im Streit die Erklärung zu sehen? Aber es kann auch umgekehrt sein: wir haben gerade den Beginn einer schlechten (negativen, dysphorischen, depressiven) Phase erlebt und waren deswegen besonders sensibel oder leicht beleidigt. Es war der Beginn einer Depression, aber wir glauben, es ist eine Reaktion.

Obwohl es so scheint, als wäre es leicht, anhand der geschilderten Symptome eine Diagnose einer „bipolaren Störung“ zu stellen, ist oft nicht einfach. Ganz häufig kommt es vor, dass bipolare Störungen erst nach vielen Jahren als solche erkannt bzw. diagnostiziert werden. Viele Betroffene sind erleichtert, wenn sie mit ihrem Leiden nun in einer „biologisch erklärbaren“ Zustand gelandet sind.

Formen ausgeprägter bipolarer Störungen

Die meisten Menschen, die an bipolaren Störungen erkrankt sind, bilden immer wieder das gleiche Muster aus, welches sie, wenn sie keine Therapie in Anspruch nehmen, dann ihr Leben lang begleitet.

Es werden derzeit vier Typen und mehrere Untertypen von bipolaren Erkrankungen unterschieden. Dies ist wichtig für die Forschung und die medikamentöse Therapie. Für betroffene Menschen und deren Angehörige ist die Unterscheidung ebenfalls wichtig, dadurch klarer ist, wie unterschiedlich die Krankheitsbilder sein können, deren Problem offenbar in einem „inneren psychischen Schrittmacher“ liegt.

  • Depressive Phasen und manische Phasen wechseln einander ab. Beide in starker Ausprägung, aber überwiegend von unterschiedlicher Dauer: Manisch drei Tage, depressiv drei Monate.
  • Depressive Phasen sind stark ausgeprägt, manische Phasen fast nicht merkbar.
  • Depressive Phasen kommen regelmäßig, manische nur bei Einnahme der falschen Medikamente.
  • Menschen sind die meiste Zeit übereifrig, über engagiert, aufgezogen, lustig (man nennt das: hyperthym) und haben manchmal, dafür umso schwerere depressive Einbrüche bzw. Phasen.

Die Verlaufsformen bleiben zwar bei jedem Betroffenen konstant, die Abstände und die Heftigkeit der Symptome können variieren. Zusätzlich können abhängig vom Schweregrad auch fixe, überwertige Ideen und Wahnsymptome auftreten („Ich bin schuldig“, „ich werde verarmen, meine Familie nicht erhalten können“ …).

Gefahren der bipolaren Störung

Der Formenkreis der Bipolarität gibt Ärzten seit weit mehr als hundert Jahren Rätsel auf und es wird auf diesem Sektor viel geforscht. Wegen der schweren Auswirkungen, die den Betroffenen selbst und auch seine Familie, seine Arbeitsumgebung und sein soziales Umfeld betreffen, besteht ein starker Druck auf die Medizin, die richtige Behandlung zu finden. Es werden immer wieder neue Behandlungsmethoden entwickelt. Aus meiner Sicht als Arzt und Psychotherapeut ist es sehr wichtig, dass die oder der Betroffenen einen oder zwei fixe, professionelle Ansprechpartner hat. Am besten ist es, wenn es eine Ärztin oder einen Arzt gibt, der die Betroffenen kennt UND auch einen psychotherapeutischen Ansprechpartner(in).

Aus allen bisher geschriebenen wird klar, dass es sich hier um eine der gefährlichsten psychischen Erkrankungen handelt. Nicht nur, dass die Selbstmordrate hoch ist, auch Selbstschädigung durch Fehleinschätzungen (sehr viele Einkäufe, gefährliches Autofahren, unpassende Sexabenteuer, falsche Entscheidungen in beruflichen und wirtschaftlichen Dingen) vor allem aber soziale Komplikationen schaffen Probleme für Betroffene und deren Angehörige.