Multiple Sklerose

Ein medizinisches Rätsel wird enthüllt

Für keine andere Erkrankung im Bereich der Neurowissenschaften haben sich unser Verständnis und die Behandlung in den letzten vierzig Jahren so verändert wie für Multiple Sklerose.

Früher gaben uns neurologische Probleme, die sich auf keinen einzelnen im Gehirn oder Rückenmark lokalisierbaren Herd zurückführen ließen so manches Rätsel auf. Erst komplizierte Untersuchungen zeigten dass es eine Entzündung im Gehirn sein musste. Die Behandlung war sehr unspezifisch und wenig nachhaltig. Das hat sich wesentlich geändert: die Erkrankung kann wesentlich differenzierter gesehen werden und damit haben sich auch die Therapieformen sehr vielschichtig entwickelt.

Plötzliche Lähmung

Bei plötzlich auftretenden schweren neurologischen Symptomen, wie Lähmungserscheinungen einer Extremität oder vorübergehender massiver Seheinschränkung auf einem Auge besonders bei jungen Menschen denkt der Arzt zunächst an eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems. Wir wissen heute, dass nicht jede dieser Entzündungen „Multiple Sklerose“ sein muss. Für diese Krankheit müssen ganz bestimmte Kriterien erfüllt sein, die vor allem durch die Magnetresonanztomografie (MRT) aber auch durch eine Nervenwasserentnahme (Liquorpunktion) festgestellt werden können. Ohne MRT ist es nicht möglich über die Herkunft der Symptome Auskunft zu bekommen.

Was passiert eigentlich?

Für die klassische Multiple Sklerose sind zwei Verlaufsformen bekannt: die schubweise (RRMS) und die langsam progrediente  Form. Es ist auch möglich, dass die schubweise in eine langsam progrediente übergehen kann.

In der Phase in der entzündliche Schübe auftreten Zunächst kommt es zu einer durch eine Reaktion des Immunsystems auf die Markscheiden der Nervenbahnen im Gehirn und Rückenmark zu einem plötzlich auftretenden Versagen der Funktion, also einem neurologischen Ausfall. Dieser Ausfall ist meist zeitlich begrenz und bildet sich nach einigen Tagen zurück. Manchmal bleiben geringe Funktionseinschränkungen zurück, die nur vom Neurologen entdeckt werden.
Sind die ersten Symptome im Bereich des Sehnerven angesiedelt, kommt plötzlich zu einer einseitigen Beeinträchtigung des Sehens, Flimmern oder Ausfälle des Gesichtsfeldes, die mehr als 24 Stunden anhalten und sich danach erst langsam rückbilden.
Auch in anderen Bereichen können neurologische Ausfälle entstehen: Gefühllosigkeit oder Schwäche einer Extremität, o.a. Immer beginnen die Krankheitssymptome recht rasch, nie schlagartig, und sie bilden sich nach einigen Tagen mehr oder weniger vollständig zurück. Bereits aus dieser typischen Art des Verlaufs haben Neurologen schon früher auf die entzündliche Ursache der Erkrankung geschlossen. Nervenwasser-Untersuchungen brachten Gewissheit in der Diagnose. Allerdings ist diese Untersuchung nicht immer erforderlich, wenn die MRT bereits genügend Klarheit bringt.

Wenn sich in dieser Phase die Symptome vollständig zurückbilden und auch kein Entzündungsschub mehr erfolgt kann es ich auch um eine gutartige Verlaufsform bzw. eine andere Erkrankung handeln.

Gehen jedoch Nervenbahnen verloren, so verlieren auch die mit ihnen kommunizierenden Nervenzellen ihre Aufgabe und werden abgebaut. Das ist an sich ein ökonomische Funktion des Gehirns: Was nicht gebraucht wird, wird wegrationalisiert und andrerseits was mehr gebraucht wird wächst. Das Gehirn ist in dieser Hinsicht wie ein Muskel, wenn es Anforderungen gibt, werden Zellsysteme ausgebaut, wie eine Autostraße bei viel Verkehr erweitert wird. Wir sagen es gibt eine „Plastizität des Gehirns“.

Wenn die Abfolge von Schüben und Erholungsphasen weiter geht oder wenn es eine langsame Verschlechterung gibt, verschlechtern sich nicht nur einzelne Funktionen des Gehirns (Lähmungen, Gangstörung, Kontinenz) sondern auch die Gesamtleistung und die Kognition (Denkleistungen).  Die heutigen Therapien gegen MS sind in der Lage die Erkrankung zu stoppen bzw. die Folgen für das Gehirn und damit den ganzen Menschen zu minimieren. Daher ist es wichtig bereits früh mit einer konsequenten, wirkungsvollen Therapie zu beginnen.

Diagnostik:

Seit der Einführung der Magnetresonanztomografie (MRT) ist der Nachweis von älteren und neueren MS-Herden kein Problem mehr. Wir wissen dadurch wo, welcher, wie große und wie alte Herde vorhanden sind. Dadurch gibt es die Möglichkeit die Therapie sehr differenziert und den Erfordernissen entsprechend zu verordnen. Wenn z.B. nur einmal entzündliche Symptomatik aufgetreten ist und dies sich auch durch die MRT belegen läßt (sogenannte CIS: Clinically Isolated Syndrome) wird andres vorgegangen, wie wenn laufend neue Schübe auftreten bzw. in der MRT eine Vielzahl von Herden unterschiedlichen Alters zu sehen sind. Es ist natürlich auch wichtig wo die Herde sind, denn die Strukturen unseres Nervensystems sind unterschiedlich anfällig und für unser Leben von unterschiedlicher Bedeutung.

Eine gute Zusatzuntersuchung, besonders wenn wir den Verdacht haben ein handelt sich um eine einmalige Entzündung des Sehnervens ist die Untersuchung der sog. visuell evozierten Potentiale. Hierbei werden uns über einen Bildschirm umspringende Kontrastmuster (Schachbrettmuster) gezeigt und die Zeit gemessen, wie lange ein Impuls vom Auftreffen auf der Netzhaut bis zur Sehrinde braucht. Bei Entzündungen ist das Zeitintervall verlängert.

Um genaueres über Verlauf und Prognose zu erfahren ist oft eine Nervenwasserentnahmen (Liquorpunktion) wichtig. Diese Untersuchung ist meist nur einmal nötig und gibt aber sehr wertvolle Informationen über die aktuelle Lage der Entzündungssituation im Gehirn und Rückenmark. Die Entnahme der Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) geschieht normalerweise von der Höhe des vierten Lendenwirbels aus. Wenn nachher Bettruhe eingehalten wird und viel Flüssigkeit getrunken sind die Folgen der Untersuchung (Kopfschmerzen) absolut überschaubar.

Behandlung:

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung, die Veränderungen auf sehr vielen verschiedenen Ebenen nach sich zieht. Einerseits treten die akuten Erkrankungsschübe auf, die rasch behandelt werden sollen. Andrerseits haben die Veränderungen an der weißen Substanz Auswirkungen auf die gesamte Funktion des Gehirns und diese sind für die chronische Phase verantwortlich. Zusätzlich haben die durch die/den Betroffenen merkbaren Einschränkungen, wie Lähmungserscheinungen, Gefühls- und Sehstörungen und Mattigkeit, jeweils wieder Folgen, vor allem auf der physikalischen Ebene. Bereits durch leichte Lähmungen können Fehlhaltungen auftreten und z.B. Gelenke ungleichmäßig abgenützt werden, was Schmerzen und weitere Bewegungseinschränkung nach sich zieht.

Daher müssen Multiple Sklerose und deren Folgen auf allen verfügbaren Ebenen behandelt werden:

  1. Behandlung eines akuten Schubes: Da es sich bei einem akutem Schub um eine Entzündung handelt und eine Entzündung einer bekannten Gesetzmäßigkeit folgt gilt: Je früher eine neue Symptomatik behandelt wird, desto größer sind die Chancen dass sich die Symptomatik vollständig rückbildet. Daher sollen MS-Kranke bei neuen Symptomen sofort den Arzt aufsuchen und ein adäquate Therapie (meist hochdosiertes Cortison) erhalten. Manchmal treten auch akute Beschwerden auf, die die/den Betroffenen glauben lassen, es sei ein akuter Schub. In der fachärztlichen Untersuchung stellt sich aber heraus, dass keine neuen Symptome dazu gekommen sind. Dann wäre das Cortison überflüssig. Um solche Unsicherheiten zu vermeiden, ist es gut einen behandelnden Arzt zu haben, der die bisherigen Symptome genau dokumentiert hat.
  2. Prophylaxe der Schübe: bei der schubhaften MS bzw.in der Phase in der Schübe auftreten ist jeder Schub einer zu viel. Daher wurden moderne hochwirksame Medikamente entwickelt, die Schübe verhindern oder seltener machen. Diese Medikamente sind sehr teuer und werden daher nur nach ausreichender Diagnosesicherung verordnet und von der Krankenkasse bezahlt. Zusätzlich besteht die Schwierigkeit, dass nicht jedes dieser Medikamente für jeden Betroffenen gut verträglich ist. Auch hier ist es gut mit einem Arzt, den man kennt und zu dem man ein gutes Vertrauensverhältnis hat die Probleme besprechen und ev. verringern zu können.
    Diese Medikamente können Tabletten oder Spritzen sein und sollen durch ein „MS-Zentrum“ (meist in einer Krankenhausambulanz) erstmals verordnet werden. Die Weiterverordnung erfolgt durch den niedergelassenen Neurologen, der auch die Kontrollen vornehmen kann.
  3. Behandlung der körperlichen Einschränkungen: Sehr oft sind die körperlichen Symptome minimal, sie können aber schwerwiegende Folgen haben, wenn sie Fehlhaltungen und Gelenksabnützungen verursachen. Daher wird ein erfahrener Arzt die Symptome ernst nehmen und die richtige Behandlung einleiten. Ds kann die gesamte Palette der physikalischen Therapie, Heilgymnastik, Akupunktur, Infiltration, Schmerztherapie oder was auch immer nötig ist sein.
  4. Behandlung der psychischen Folgen. Schmerzen, Depression, Bewegungsmangel, Angst und v.a. Müdigkeit manchmal auch Einschränkungen gewisser höherer Hirnleistungen können bei Multipler Sklerose auftreten. Auch diese Symptome sind durch gezielte Behandlung minimierbar. Wichtig ist es zu wissen, was man machen soll und welche Medikation am sinnvollsten ist.
    In diesem Zusammenhang hat auch die Psychotherapie einen wesentlichen Platz in der Behandlung der MS. Mit Psychotherapie ist es möglich Schmerz, Trauer, Wut zu verarbeiten und krankmachende Muster aufzudecken.
  5. Behandlung der Begleiterkrankungen. Da Multiple Sklerose eine große Vielzahl von Symptomen verursachen kann, treten auch Folge- und Begleiterkrankungen in sehr unterschiedlichen Organen und Ausprägungen auf. Dies können z.B. urologische Komplikationen sein, als Folge der eingeschränkten Blasenfunktion (neurogene Blasenstörung). Natürlich spielen auch Probleme mit der Sexualität eine große Rolle. Außerdem sind alle Folgen der Einschränkung der Beweglichkeit und der damit verbundenen Bewegungsreduktion ein wichtiges gesundheitliches Thema.
    Diese Probleme können mit herkömmlichen Methoden (z.b. Antibiotika bei Blasenentzündung) behandelt werden. Man kann aber auch verschiedene Alternativen in Betracht ziehen. Nicht immer ist der sog. „schulmedizinische“ Weg der beste. Gerade bei den Folge-Erkrankungen ist es notwendig, sehr umsichtig und ganzheitlich denkend auf die veränderten Bedürfnisse des MS-Kranken einzugehen.
  6. Behandlung des sozialen Umfeldes. Für jeden chronisch Kranken ist es notwendig sich mit den Gegebenheiten seiner Erkrankung auseinander zu setzen. Aber dasselbe ist auch für das engere und weiter Umfeld notwendig. Manche „Freunde“ werden sich zurückziehen, aus welchen Gründen auch immer. Manche werden immer einbringen und sich ständig besser wissen, was getant werden sollte. In diesen Konfliktfeldern ist es nicht leicht für eine Familie, in der ein Mitglied erkrankt ist, die sozialen Kontakte weiter zu pflegen. Die direkten Angehörigen sind durch die Probleme der Krankheit, die Bedürfnisse des Kranken, die Arztbesuche, die verminderte bzw. veränderte Leistungsfähigkeit des Kranken bzw. die eigene Betroffenheit und Trauer bereits sehr belastet. Dann treten auch Probleme im Umfeld und finanzielle Probleme dazu. Da kann es schon gut sein, sich als betreuender Angehöriger noch zusätzlich fachärztlichen Rat und konkrete Hilfe zu holen.

MS ist eine Erkrankung mit zahlreichen gut wirksamen Therapiemöglichkeiten. Sie stellt ein massive Herausforderung an die/den Betroffenen, seine Umgebung und die Ärzte dar. So wichtig „MS-Zentren“ für die Diagnostik und erste Behandlung der Betroffenen sind, sie können nicht alle Probleme abdecken. Sie können auch keine „Betreuung“ übernehmen, das diese zentren meist stark überlaufen sind. Daher ist es wichtig, einen Facharzt für Neurologie mit Einblick in die ganzheitliche Medizin und psychotherapeutischer Ansätzen aufzusuchen. Die fortlaufende Betreuung, regelmäßige Gespräche, vielleicht auch über „Kleinigkeiten“ und neurologische Kontrolle geben Sicherheit.